Medikamenten-assoziierte Kiefernekrose – Herausforderung in der zahnärztlichen Praxis
Die Medikamenten-assoziierte Kiefernekrose stellt Patienten und Behandler vor große Herausforderungen. Die klinische Bandbreite reicht von kleinen Arealen freiliegenden Knochens, die den Patienten wenig belasten, bis hin zu großen, teils mutilierenden Kieferdefekten, die die Kau- und Sprechfunktion stark beeinträchtigen. Nicht selten wird die Lebensqualität der Betroffenen durch die Kiefererkrankung weitaus stärker gemindert als durch das ursprüngliche Leiden, das der auslösenden Medikation zugrunde liegt. In diesem Beitrag werden die beteiligten Medikamente und prophylaktische wie therapeutische Konzepte zur Vermeidung bzw. Therapie einer Medikamenten-assoziierten Kiefernekrose für die Zahnarztpraxis zusammengefasst.
Es ist ein Paradox: Während Bisphosphonate und antiresorptive Medikation im Achsenskelett osteoprotektiv wirken und das Fortschreiten von Osteoporose oder osteolytischen Knochenmetastasen reduzieren, können diese Präparate im Kieferbereich zum Auftreten von nekrotischen Arealen führen. Erstmalig erwähnt wurde diese potenzielle unerwünschte Arzneimittelwirkung gegenüber der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA im Jahr 2001. In der Folge häuften sich die ersten Fallberichte und -serien, die eindrucksvoll die Klinik dieser unerwarteten und initial bezüglich ihrer Kausalität sehr kontrovers diskutierten Problematik schilderten. Seit der Erstbeschreibung wurde in vielen experimentellen und klinischen Untersuchungen der Zusammenhang zwischen Medikation und Osteonekrose beschrieben und ein großer Teil der Pathogenese aufgedeckt [13, 19, 24]. Das Vorhandensein einer Medikamenten- assoziierten Kiefernekrose wird durch das Vorliegen der folgenden Kriterien definiert:
- freiliegender, nekrotischer Knochen im Ober- und/oder Unterkiefer,
- Persistieren des Os liber von mindestens acht Wochen,
- keine vorherige Strahlentherapie im betroffenen Bereich.
Letzteres grenzt die Medikamenten-assoziierte Kiefernekrose von der Radionekrose ab und zeigt, dass die Differenzierung beider Krankheitsbilder bei Patienten, die beiden Risikofaktoren ausgesetzt sind oder waren, nicht ohne Weiteres möglich ist. Bei der Inspektion erkennt man typischerweise keine Größenunterschiede der Läsionen, allerdings sieht man im Gegensatz zur Radionekrose bei Patienten mit Medikamenten-assoziierter Kiefernekrose häufig mehr Läsionen pro Patient [1]. Neben dem freiliegenden Knochen, der beschwerdearm über lange Zeit bestehen kann, zeigen sich als unspezifische entzündungsassoziierte Symptome Schwellung, Schmerz, Zahnlockerung, Mundgeruch, Fistelbildung oder Sensibilitätsstörungen in der Unterlippe (Abb. 1).
Warum ausgerechnet der Kiefer?
Typischerweise nimmt die Medikamenten-assoziierte Kiefernekrose ihren Ausgang im alveolären Knochen und breitet sich dann in Ober- und Unterkiefer aus. Obwohl grundsätzlich beide Kiefer betroffen sein können, beträgt das Verhältnis von Ober- zu Unterkieferbeteiligung 1:2. Die anatomischen oder physiologischen Zusammenhänge, die die besondere Anfälligkeit des Kiefers bedingen, sind bis dato im Detail nicht verstanden. Ein Grund für die besondere Verletzlichkeit des Unterkiefers wird in der charakteristischen Knochenarchitektur mit dicker, wenig von Gefäßen durchsetzter Kompakta gesehen. Der Oberkiefer ist im Gegensatz dazu weniger kompakt sowie stärker von Blutgefäßen durchsetzt und damit womöglich regenerationsfreudiger. Grundsätzlich zeigt der Knochen des bezahnten Alveolarfortsatzes eine um das Zehnfache höhere Knochenumsatzrate als alle anderen Knochen. Zudem sind Osteoklasten des Kieferknochens besser in der Lage, Bisphosphonate zu internalisieren als Osteoklasten aus dem Knochenmark der langen Röhrenknochen. Obwohl diese Charakteristika das Vorkommen der Osteonekrose im Kiefer erklären könnten, konnte bis dato keine wesentlich verstärkte Anreicherung des Medikaments im Kiefer nachgewiesen werden. Zudem scheinen die ortsständigen Osteoklasten trotz effektiverer Aufnahmekapazität weniger sensibel auf die Bisphosphonate zu reagieren.
Eine Besonderheit des Kiefers, die die erhöhte Anfälligkeit für das Auftreten von Medikamenten-assoziierten Nekrosen bedingen mag, ist die räumliche Nähe zur keimbelasteten Mundhöhle und insbesondere die direkte Verbindung über Zähne und Parodontalspalt. Im Gegensatz zu anderen Körperregionen wird der Knochen hier lediglich von Periost und dünner Mukosa ohne schützenden Weichgewebsmantel bedeckt und ist der mikrobiellen Flora nach Mikrotraumata direkt ausgesetzt. Auch die stetige Belastung des Knochens durch den von den Zähnen übertragenen Kaudruck mag die Widerstandskraft der Kiefer beeinträchtigen.
Die desmale Ossifikation von Kalotte und Kiefer, in deren Rahmen sich der Knochen aus undifferenzierten mesenchymalen Zellen bildet, im Gegensatz zur enchondralen Ossifikation z. B. der langen Röhrenknochen mag ein weiterer begünstigender Faktor für das exklusive Auftreten der Nekrose im Kiefer sein [10].
Bisphosphonate
Bisphosphonate sind gut verträgliche osteotrope Medikamente, die exakt das tun, was in knochenprotektiver Indikation von ihnen erwartet wird: Sie beeinflussen den Knochenstoffwechsel und mindern eine übermäßige Knochenresorption u. a. bei Osteoporose, Plasmozytom oder osteolytischen Metastasen maligner Tumoren wie Mamma- oder Prostatakarzinom. In den USA zählen Bisphosphonate seit Jahren zu den Top 100 der am häufigsten verordneten Präparate [4].
Die Medikamente zeigen eine sehr hohe Affinität zu Hydroxylapatit, insbesondere im Bereich von Resorptionslakunen, also exakt am Ort des unerwünschten Knochenabbaus. Dort werden sie von Osteoklasten internalisiert und inhibieren deren Aktivität; zusammen mit der Erhöhung der osteoklastären Apoptoserate führt dies zur effektiven Hemmung des Knochenabbaus. Weiterhin wurden für Bisphosphonate ein antiangiogener Effekt sowie eine Hemmung der Ankopplung von Tumorzellen an die Knochenoberfläche beschrieben [3].
Klinisch drückt sich der positive Effekt der Bisphosphonate in einer Schmerzlinderung und einer deutlich reduzierten Frakturgefahr aus. Das Nebenwirkungsprofil der Bisphosphonate ist sehr überschaubar: Bei oraler Darreichung werden in erster Linie unerwünschte gastrointestinale Effekte wie Übelkeit, Bauchschmerzen oder Diarrhö beobachtet. Bei intravenöser Gabe muss die Nierenfunktion berücksichtigt und beobachtet werden, um eine Niereninsuffizienz frühzeitig zu erkennen. Wegen ihrer Fähigkeit, mit Kationen wie Kalzium oder Magnesium stabile Komplexe zu bilden, sollten Bisphosphonate nicht zusammen mit Milch oder Mineralwasser eingenommen werden, da durch die Ionen im Wasser die geringe Bioverfügbarkeit weiter reduziert werden kann. Die Halbwertszeit der Präparate beträgt an der Knochenoberfläche bis zu 200 Stunden, in tieferen Schichten des Knochengewebes bis zu mehrere Jahre. In der Beschreibung des Risikoprofils für das Auftreten der Kiefernekrose unter Bisphosphonat-Therapie sind drei Kategorien definiert [7]:
Ein niedriges Risiko mit einer Prävalenz von 0,1 % liegt vor, wenn die Medikamente oral oder einmal jährlich intravenös verabreicht werden. Damit ist das Risiko an einer Osteonekrose des Kiefers zu erkranken im Vergleich zur Gesamtbevölkerung nur geringfügig erhöht. Dieses Therapieregime wird in der Behandlung der Osteoporose verfolgt. Dauert die orale Medikation weniger als 3 Jahre an und liegen keine weiteren Risikofaktoren (z. B. immunsuppressive Therapie) vor, ist die Durchführung eines oralchirurgischen Eingriffs nicht mit der Gefahr der Entwicklung einer Osteonekrose vergesellschaftet. Je länger die Medikation fortgesetzt wird, desto höher ist das Risiko.
Einem mittleren Risiko sind Patienten ausgesetzt, die aufgrund einer sekundären, z. B. kortisonbedingten Osteoporose halbjährlich intravenös mit Bisphosphonaten behandelt werden; hier liegt die Prävalenz bei 1 %.
Zwischen 1 % und 19 % muss die Prävalenz einer Kiefernekrose unter monatlicher intravenöser Bisphosphonat- Therapie eingestuft werden. Dieses Therapiekonzept findet in erster Linie in onkologischer Indikation bei der Behandlung knöcherner Metastasen des Mamma- oder Prostatakarzinoms oder in der Behandlung des Multiplen Myeloms Anwendung [7].
Denosumab
Eine Rationale in der Entwicklung antiresorptiver Medikamente war ein spezifischerer Ansatz in der Modulation des Knochenstoffwechsels, um unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden. Der intravenös verabreichte RANKL-(receptor activator of nuclear factor kappa-B ligand)Inhibitor zeigt in der Tat ein günstigeres Nebenwirkungsprofil in Bezug auf renale Toxizität. Das geringere Risiko für das Auftreten einer Kiefernekrose unter Denosumab-Therapie konnte nicht belegt werden: Die Inzidenz für das Auftreten einer Medikamenten-assoziierten Kiefernekrose liegt bei etwa 2 % pro Jahr der Anwendung. Auch hier ist das Risiko geringer, wenn das Präparat im Rahmen einer Osteoporose-Therapie seltener verabreicht wird. Der Hersteller informiert die Anwender im Juli 2015 in einem Rote-Hand-Brief über die Gefahr der Kiefernekrose, die unter Denosumab häufig auftritt (bei bis zu 1 von 10 behandelten Personen), formuliert bereits bestehende freiliegende Knochenareale intraoral als neue Kontraindikation und empfiehlt vor Therapiebeginn ein präventives zahnärztliches Assessment [17, 23].
Denosumab ist ein humaner monoklonaler Immunglobulin- G2-Antikörper, der die Bindung von RANKL an RANK kompetitiv hemmt. Der unmittelbare Effekt ist eine Hemmung der Differenzierung der Osteoklasten sowie deren Proliferation; ein reduzierter Knochenabbau ist die Folge [11]. Denosumab imitiert damit die Wirkung des osteoprotektiven Proteins Osteoprotegerin, weist im Gegensatz dazu jedoch eine stärkere und selektivere Affinität zu RANKL auf. In den Zulassungsstudien zeigte Denosumab ein dem Zoledronat vergleichbares Risikoprofil für das Auftreten von Kiefernekrosen [5]. Als häufige unerwünschte Arzneimittelwirkung sind für Denosumab Schmerzen in den Extremitäten, Muskeln und Gelenken beschrieben.
Bisphosphonate und Denosumab unterscheiden sich trotz ähnlicher antiresorptiver Wirkweise an vielen Stellen: Während Bisphosphonate von den Osteoklasten internalisiert werden müssen, um von intrazellulär zu wirken, entfaltet Denosumab seinen Effekt von extrazellulär. Dies erklärt die lange Halbwertszeit der Bisphosphonate und das Fortdauern der Wirkung nach Absetzen der Medikation. Ein weiterer Unterschied besteht in der Distribution der Wirkstoffe im Knochen. Denosumab verbreitet sich als Antikörper und damit als lösliches zirkulierendes Protein im gesamten Extrazellulärraum ohne übermäßige Bindung an Knochenoberflächen. So ist eine homogenere Verteilung des Medikaments in der Knochenarchitektur möglich, die eine effektivere Wirkung bedingt. Bisphosphonate hingegen zeigen eine starke Affinität zu Hydroxylapatit, die ein Vordringen des Wirkstoffs in tiefer gelegene Knochenareale erschweren kann. Untermauert wird dies durch die Beobachtung, dass Bisphosphonate mit einer geringeren Mineralaffinität in der Lage sind, in tiefere Knochenstrukturen vorzudringen. Zudem scheint Denosumab im Gegensatz zu Bisphosphonaten keinen wesentlichen antiangiogenen Effekt auszuüben.
Bisphosphonaten und Denosumab ist gemein, dass durch die Reduktion der osteoklastären Aktivität eine Signalkaskade unterbrochen wird, in deren Ablauf mit dem Ziel der knöchernen Homöostase Proteine wie BMP (bone morphogenetic protein) und IL (Interleukin) 1 und 2 ausgeschüttet werden. Diese würden als Antwort auf die Osteolyse eine stimulierte Knochenregeneration auslösen. Da dieses Signal ausbleibt, ist die Regenerationsfähigkeit des Knochens eingeschränkt [2].
Antiangiogene Therapie: Bevacizumab
Der Angiogenesehemmer Bevacizumab wurde unter der Prämisse entwickelt, die Therapie bösartiger Tumoren schärfer auf das Ziel zu justieren und gesundes Gewebe soweit als möglich unbeeinträchtigt zu lassen. Er richtet sich gegen die verstärkte Gefäßneubildung in bösartigem Gewebe, die eine wesentliche Voraussetzung für Tumorwachstum, -invasion und Metastasierung darstellt.
Es handelt sich um einen rekombinanten monoklonalen Immunglobulin-G1-Antikörper, der entwickelt wurde, um selektiv alle Isoformen des Human Vascular Endothelial Growth Factor A (VEGF A) zu binden und damit dessen biologische Aktivität zu inhibieren. VEGF als Mittler der Gefäßneubildung ist in vielen Tumoren überexprimiert und ist mit der Tumorprogression assoziiert. Der Wirkstoff findet Anwendung in der Behandlung von findet Anwendung in der Behandlung von fortgeschrittenen Tumoren des Kolons, der Lunge, der Nieren, der Brust, der Ovarien sowie des Zentralnervensystems. Darüber hinaus wird Bevacizumab intraokular zur Therapie der Makuladegeneration eingesetzt [9].
Unter Anwendung des Präparates wurde das Auftreten von Kiefernekrosen beobachtet, die klinisch der Manifestation von Nekrosen unter Bisphosphonat- oder Denosumab-Therapie entsprachen. Die Meldehäufigkeit betrug weniger als einen von 10.000 Behandelten und ist damit als gering einzustufen. In der Mehrzahl der beobachteten Fälle wurden die Betroffenen vorher oder parallel zur antiangiogenetischen Therapie intravenös mit Bisphosphonaten behandelt. Weiterhin lagen bei diesen meist fortgeschritten erkrankten Patienten weitere Risikofaktoren vor, die das Auftreten von Osteonekrosen des Kiefers begünstigen, u. a. Kortisontherapie, Bestrahlung im Kopf-Hals-Bereich oder Chemotherapie. In ihrem Rote-Hand-Brief aus dem Jahr 2010 definiert die Roche Pharma AG in Abstimmung mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und dem Paul- Ehrlich-Institut (PEI) Bevacizumab als potenziellen Risikofaktor für das Auftreten von Kiefernekrosen, v. a. in Verbindung mit gleichzeitiger oder früher stattgehabter Bisphosphonat-Gabe. Ohne Korrelation zu einer oralen oder intravenösen Bisphosphonat-Therapie wird die Prävalenz einer Kiefernekrose unter Bevazicumab-Therapie mit etwa 0,4 % eingeordnet [8]. Vor der Einleitung der Bevacizumab-Therapie wird daher die routinemäßige Durchführung einer zahnärztlichen Untersuchung, und wenn erforderlich der notwendigen Prophylaxe, empfohlen. Speziell unter parallel verabreichter intravenöser Bisphosphonat-Therapie ist die Indikation für invasive dentoalveoläre Eingriffe streng zu stellen [18].
In Verbindung mit Bevacizumab wurde auch Temsirolimus, ein Inhibitor des mTOR Pathways und Angiogenesehemmer, der in der Therapie fortgeschrittener Nierenzellkarzinome Anwendung findet, als potenzieller Risikofaktor für die Entstehung einer Medikamentenassoziierten Kiefernekrose identifiziert, sodass unter Umständen auch Modulatoren dieser Signalkaskade als Risikopräparate berücksichtigt werden müssen [22].
Sunitinib
Der Multikinase-Inhibitor Sunitinib wird in einzelnen Kasuistiken ebenfalls mit dem Auftreten von Kiefernekrosen in Verbindung gebracht. Das oral verabreichte Präparat zählt zur Gruppe der Tyrosinkinase-Inhibitoren und gilt analog zu Bevacizumab als potenter Angiogenesehemmer; es wirkt u. a. am PDGF (platelet derived growth factor)-, am VEGF- und am M-CSF (monocyte colony stimulating factor)-Rezeptor, die in malignem Gewebe überexprimiert sind und Signale von Wachstum, Differenzierung und Zellüberleben vermitteln. Therapeutisch wird Sunitinib in der Behandlung von renalen und gastrointestinalen Tumoren eingesetzt. Das Resultat zeigt sich u. a. in einer Hemmung von Zellmigration, Neoangiogenese und Invasionspotenzial.
Da insbesondere die Langzeiteffekte von Sunitinib auf den Knochenstoffwechsel noch nicht bekannt sind, sollten alle Behandler vor Ansetzen der Therapie die erforderliche zahnärztliche Untersuchung einleiten, um die Gefahr der Osteonekrose zu minimieren [6].
Prophylaxe einer Medikamenten-assoziierten Kiefernekrose
Das Einfachste gestaltet sich manchmal am schwierigsten: die Erkenntnis zu erlangen, dass ein Patient ein Medikament einnimmt, das mit der Entstehung einer Osteonekrose des Kiefers vergesellschaftet sein kann. Viele Patienten sind nicht hinreichend instruiert, die neue Medikation dem Zahnarzt mitzuteilen, in manchen Fällen geht die selten verabreichte Spritze neben den zahlreichen täglich geschluckten Pillen unter.
Eine regelmäßige Aktualisierung der vermeintlich längst bekannten Medikamentenanamnese muss insbesondere bei älteren Patienten Standard sein. Obwohl sich die Kenntnis um die unerwünschte Arzneimittelwirkung „Kiefernekrose“ in den vergangenen Jahren unter Onkologen, Internisten und Allgemeinmedizinern merklich verbreitet hat, werden noch nicht alle Patienten routinemäßig über die Notwendigkeit einer zahnärztlichen Untersuchung vor Therapiebeginn aufgeklärt. Werden Patienten unter antiresorptiver oder antiangiogener Therapie gemeinsam betreut, bietet sich ein interdisziplinärer Dialog an, der beide Behandler über den aktuellen Stand der Dinge – intra- und extraoral – auf dem Laufenden hält.
Wird ein Patient vor Einleitung einer antiresorptiven oder antiangiogenen Therapie überwiesen, sollten standardisiert folgende Maßnahmen zur Prophylaxe einer Medikamenten-assoziierten Kiefernekrose durchgeführt werden [20]:
- Gründliche klinische und radiologische Untersuchung des Kieferbereichs
- Parodontologische Diagnostik und Therapie
- Evaluierung, bei Bedarf Anpassung vorhandenen Zahnersatzes zum Ausschluss von Druckstellen
- Fokussanierung, Entfernung nicht erhaltenswerter Zähne und/oder Implantate
- Regelmäßige professionelle Zahnreinigung in Verbindung mit stetiger Information und Motivation zu exzellenter Mundhygiene
- Aufnahme in ein Recallsystem entsprechend dem individuellen Risikoprofil
Das Ausmaß der Fokussanierung orientiert sich an einem Maßstab, der auch bei nicht medikamentös behandelten Patienten angelegt werden könnte. Das Ziel dieser Maßnahmen besteht darin, die Notwendigkeit einer chirurgischen Intervention unter laufender Medikation zu vermeiden. Denn ein Pausieren der Einnahme bringt unter Berücksichtigung der langen Halbwertszeit einzelner Präparate nicht zuverlässig den durchschlagenden Effekt. Zudem ist die Medikation medizinisch indiziert, ein Aussetzen könnte somit unerwünschte Effekte bezüglich der onkologischen Grunderkrankung mit sich bringen.
Diagnostik
Die gründliche intraorale Inspektion und frühzeitige Identifikation und Ausschaltung potenzieller Problemherde sind im Prinzip die wertvollsten Instrumente der Früherkennung. Gerade bei onkologisch geführten Patienten muss eine Metastasierung des Primärtumors histologisch ausgeschlossen werden.
Apparative bildgebende Diagnostik spielt in der Früherkennung eine untergeordnete Rolle; lediglich die Knochenszintigraphie ist in der Lage, bei über der Hälfte der Patienten einen Hinweis auf gefährdete Knochenareale zu geben, bevor die Osteonekrose klinisch erkennbar wird. Die Bildgebung spielt bei der Diagnostik und Therapieplanung der symptomatischen Kiefernekrose jedoch eine wichtige Rolle; anhand der radiologischen Darstellung kann beispielsweise eine Sequestrierung identifiziert und die Ausdehnung der erforderlichen Resektion definiert werden [15].
Die Aussagekraft von molekularen Markern des Knochenstoffwechsels als Screening-Parameter wird bis dato uneinheitlich bewertet. Aus der Verringerung des CTX (C-terminales Kollagen-Typ-I-Telopeptid, quervernetzt), dessen Serumkonzentration im Zuge eines reduzierten Knochenumbaus verändert sein kann, lässt sich keine Korrelation zum Auftreten einer Kiefernekrose und letztlich auch keine Handlungsempfehlung ableiten [12].
Chirurgische Therapie unter antiresorptiver und antiangiogener Medikation
Unter und nach medikamentöser Therapie, die mit der Entstehung einer Kiefernekrose in Verbindung zu bringen ist, steht die Prävention der Kiefernekrose als mundgesundheitsbezogenes Therapieziel im Vordergrund. Lässt sich unter antiresorptiver oder antiangiogener Therapie ein dentoalveolär-chirurgischer Eingriff nicht vermeiden, gibt es für die Durchführung klare Empfehlungen, die die Entstehung oder das Fortschreiten einer Kiefernekrose minimieren sollen.
Der Patient sollte für den Eingriff antibiotisch abgeschirmt werden; die perioperative Antibiose mit Amoxicillin, gegebenenfalls in Kombination mit Clavulansäure, kann bis zu drei Tage vor dem Eingriff eingeleitet werden und sollte mindestens bis zum zehnten postoperativen Tag fortgeführt werden. Bei Penicillinallergie wird Clindamycin 600 mg 3 × tägl. empfohlen. Der Eingriff selbst sollte möglichst gewebeschonend durchgeführt werden. Das denudierte Knochenareal sollte so klein wie möglich gehalten werden und etwaige Knochenkanten sind sorgfältig zu glätten. Freiliegender Knochen ist möglichst spannungsfrei epiperiostal zu decken.
Empfehlungen zum Pausieren der antiresorptiven oder antiangiogenen Therapie sind heterogen: Aus der Literatur ergeben sich keine evidenzgestützten Handlungsempfehlungen. Alleine auf Basis der Pharmakokinetik scheint ein Pausieren der Antikörpermedikation effektvoller zu sein als eine Therapiepause bei Bisphosphonat-Gabe. Ob ein „drug holiday“ möglich ist und wie sich ein chirurgischer Eingriff optimal in das Medikationskonzept einbinden lässt, sollte mit dem behandelnden Onkologen oder Internisten abgesprochen werden [7].
Therapie der Kiefernekrose
Die Manifestation der Medikamenten-assoziierten Kiefernekrose kann in Anlehnung an die Klassifikation der American Association of Oral and Maxillofacial Surgeons folgendermaßen kategorisiert werden [20]:
werden:
Patienten der Risikopopulation sollten ausführlich über den Krankheitsmechanismus
und weitere Risikofaktoren wie Rauchen oder schlechte Mundhygiene aufgeklärt werden. Außer einer Mundhygieneinstruktion und -motivation sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich.
Im Stadium 0 können in Abhängigkeit von der Ausprägung der Beschwerden systemische Maßnahmen erforderlich werden. Bei klinischem Verdacht auf ein akutes Entzündungsgeschehen sollte eine Antibiose nach Resistogramm, bei Bedarf in Kombination mit Analgetika, verabreicht werden.
Liegt der nekrotische Knochen asymptomatisch frei, muss keine invasive oder systemische Therapie erfolgen. Die Patienten sind in einem dreimonatigen Recallsystem zu führen und sollten regelmäßig antibakterielle Mundspülung anwenden. Mit dem behandelnden Onkologen oder Internisten sollte Rücksprache bezüglich des Auftretens der Kiefernekrose gehalten werden. Bei dieser Gelegenheit können die Indikation und die Dosierung der Medikation überprüft werden und das weitere Vorgehen kann abgestimmt werden.
Beim Übergang in Stadium 2 sollte mit Auftreten von Infektionszeichen die lokale Spültherapie um eine orale Antibiotika- und Schmerztherapie ergänzt werden. Eine chirurgische Abtragung der nekrotischen Knochenareale kann die Weichgewebsreizung reduzieren. Die Herausforderung besteht in der Definition des Resektionsbereichs. In der Literatur wird die Anwendung einer Fluoreszenzlampe nach mehrtägiger Tetracyclin- oder Doxycyclingabe beschrieben, um unter Ausnutzung des Fluoreszenzverhaltens die Ausdehnung des nicht erhaltenswerten Knochens scharf eingrenzen zu können. Dies scheint ein eher objektivierbarer Parameter zu sein als die Abtragung des nekrotischen Knochens „bis es blutet“ [16]. In der Behandlung von intra-extraoralen Fisteln sind die lokale antibiotische Irrigation der Läsion und die Anwendung eines Hydrogel-Alginat-Verbandes mit gutem Erfolg beschrieben.
Im fortgeschrittenen Stadium 3 sind häufig ausgedehntere chirurgische Eingriffe wie eine (Kontinuitäts-)Resektion des nekrotischen Knochens oder die Therapie einer pathologischen Fraktur indiziert. Insbesondere die Rekonstruktion und die funktionelle Rehabilitation stellen den Behandler vor große Herausforderungen. Vor der radikalen Resektion und der Planung der rekonstruktiven Therapie sind drei Kenngrößen zu berücksichtigen: die aktuelle Ausprägung der Superinfektion, der drohende Weichgewebsverlust und letztlich die medizinische Indikationsstellung und die allgemeine Operationsfähigkeit des Patienten – auch vor dem Hintergrund einer onkologischen Grunderkrankung. Ein zweizeitiges rekonstruktives Vorgehen sollte bei Patienten mit starker Begleitentzündung und großem Weichgewebstrauma in Erwägung gezogen werden. Als verlässlichste Weichgewebsrekonstruktion ist der Pectoralis-Major-Lappen beschrieben. Vom erfolgreichen Einsatz von autologen Knochentransplantaten, einschließlich freiem und mikrovaskulär anastomosiertem Gewebe, wird in verschiedenen Fallserien berichtet; eine erhöhte Morbidität der Spenderregion fällt hier nicht auf.
Adjuvante Therapieregimes wie hyperbare Sauerstofftherapie, die Gabe von PRP (platelet rich plasma) oder Ozontherapie zeigen in einzelnen Untersuchungen sehr positive Effekte. Sie finden als ergänzende fakultative Maßnahmen Erwähnung in den aktuellen Leitlinienempfehlungen, sind nach aktueller Datenlage jedoch nicht geeignet, um etablierte konservative und chirurgische Therapiekonzepte zu ersetzen [14, 21].
Kausale Therapieansätze oder Behandlungsstrategien, die auf eine gerichtete Protektion des Kieferknochens abzielen, existieren aktuell nicht. Während zu den pharmakologischen Effekten der verschiedenen Medikamente in Bezug auf den Knochenstoffwechsel bereits vieles bekannt ist, stehen die Antworten auf die entscheidenden Fragen noch aus: Wie lässt sich die Degeneration des Kiefers vermeiden? Was ist ein kausaler Therapieansatz? Wie lassen sich knöcherne und vaskuläre Regeneration prophylaktisch oder therapeutisch optimieren? Letztlich werden sich die Therapieoptionen und der langfristige Erhalt der Lebensqualität der Betroffenen erst wesentlich verbessern, wenn in dieser Hinsicht ein Durchbruch erzielt worden ist.
Fazit
Antiresorptive und antiangiogene Medikamente sind in osteoprotektiver und onkologischer Indikation hochwirksame Präparate, um gerade fortgeschritten erkrankte Patienten effektiv und mit überschaubarem Nebenwirkungsprofil zu therapieren. Ohne die Wirkstoffe zu verteufeln sollte jedoch bei Verordnendem und Patienten das Bewusstsein für die Problematik der Kiefernekrose und für die Notwendigkeit einer zahnärztlichen Therapiebegleitung geschärft werden. Ein wesentliches Ziel muss sein, den Dialog und den Informationsaustausch zwischen den Behandlern zu intensivieren. Für die Zukunft ist es wünschenswert, die Pathomechanismen der Erkrankung weiter zu beleuchten und zielgerichtete Präventions- und Behandlungskonzepte zu etablieren.