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Frühkindliche Karies: Folgeproblematiken und Tertiärprävention

Frühkindliche Karies, auch als Early Childhood Caries (ECC) bezeichnet, ist nicht nur in sogenannten Entwicklungsländern, sondern auch in Europa eine der häufigsten chronischen Erkrankungen im Kleinkind- und Vorschulalter. Obwohl sich in den letzten Jahren insbesondere im Bereich der Prävention vieles getan und verbessert hat, bleiben immer noch Kinder zurück, bei denen die Primär- und Sekundärprävention nicht gegriffen hat. Hier setzt die Tertiärprävention an, die darauf abzielt, ein Fortschreiten der Erkrankung sowie weitere mögliche Schäden und Spätfolgen zu verhindern.

Schwere Form der ECC bei einem 3-jährigen Kind mit typischem Befallmuster:
Neben der OK-Front sind auch die Milchmolaren und hier sogar die
Eckzähne deutlich betroffen Dr. Schmoeckel
Schwere Form der ECC bei einem 3-jährigen Kind mit typischem Befallmuster: Neben der OK-Front sind auch die Milchmolaren und hier sogar die Eckzähne deutlich betroffen
Schwere Form der ECC bei einem 3-jährigen Kind mit typischem Befallmuster: Neben der OK-Front sind auch die Milchmolaren und hier sogar die Eckzähne deutlich betroffen

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In Deutschland weist wohl immer noch in etwa jedes siebte 3-jährige Kind bereits Dentinkaries auf. Im Mittel sind bei diesen von Karies betroffenen Kleinkindern schon mehr als 3,5 Zähne betroffen [21]. Dies verdeutlicht die starke Polarisation des Kariesbefalls schon von klein auf.

Zudem ist der Versorgungsgrad der kariösen Milchzähne leider sehr gering, obwohl die Behandlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung getragen wird. Vermutlich ist die geringe Sanierungsrate auf die niedrige Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft dieser Kleinkinder zurückzuführen; möglicherweise aber auch auf unzureichende universitäre Ausbildung im Bereich Kinderzahnheilkunde und folglich fehlende zahnärztliche Expertise.

Zahnbehandlungen in Narkose (mit entsprechenden Risiken, Kosten etc.) sind daher mitunter nötig, welche oftmals aber i.d.R. nur in spezialisierten oder oralchirurgischen Praxen durchgeführt werden. Eine flächendeckende frühzeitige primäre Kariesprävention ab dem 1. Milchzahn in Kinderzahnheilkundepraxen und ganz besonders auch in Allgemeinzahnarztpraxen wäre von zentraler Bedeutung. Hier wurden glücklicherweise in den vergangenen Jahren einige wichtige Aspekte zur Verbesserung der Mundgesundheit im Milchgebiss adressiert und im Rahmen unseres Gesundheitssystems verbessert:

  • ECC-Ratgeber der KZBV/BZÄK zur Vermeidung frühkindlicher Karies mit wichtigen Informationen zur Durchführung der Prävention beim Kleinkind (https://www.kzbv.de/ratgeber-ecc)
  • Einführung einer Kinderzahnpasta mit höherem Fluoridgehalt (1000 ppm vs. 500 ppm vorher)
  • neue, gut bezahlte KV-Leistungen für Prävention in der Zahnarztpraxis beim Kleinkind (u.a. FU, FLA, FuPr)
  • gemeinsame einheitliche Fluorid-Empfehlungen von Zahnärztinnen und Zahnärzten sowie Kinderärztinnen und Kinderärzten
  • Verweis von Kinderarzt bzw. Kinderärztin zur Zahnärztin oder Zahnarzt im gelben U-Heft ab der U5, d.h. ab einem Alter von 6 Monaten
  • Gruppenprophylaxe-Konzepte für Kleinkinder in Kitas (DAJ)

Doch was ist mit den bereits von ECC betroffenen Kindern, bei denen die Primär- und Sekundärprävention nicht anschlug? Bei diesen meist in Narkose behandelten Kleinkindern werden oftmals viele Zähne entfernt. Hier spielt dann die Tertiärprävention, also die Vermeidung von weiteren Schäden bzw. Spätfolgen der frühkindlichen Karies, wie in diesem Beitrag dargestellt, eine sehr wichtige Rolle (Tab. 1).

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Primäre Prävention
Vorbeugung und Risikoschutz zum Erhalt der Gesundheit, also beispielsweise gesunder Zähne von Beginn an
Sekundäre Prävention
Maßnahmen zur Erkennung früher Krankheitsstadien wie der Initialkaries bei Vorsorgeuntersuchungen (z.B. FU) und Vermeidung des Fortschreitens
Tertiäre Prävention
Maßnahmen zur Vermeidung von Spätfolgen oder Folgeerkrankungen fortgeschrittenen Erkrankungsstadien oder Sanierungen, oft im Sinne einer Rehabilitation

Tab. 1: Definitionen verschiedener Präventionszeitpunkte.

Hauptursachen

Hauptursache von ECC ist eine mangelhafte Zahnpflege beim Kleinkind in Kombination mit einem hochfrequenten Konsum zuckerhaltiger Getränke. Dies bedeutet, dass meist kein (Nach-) Putzen durch die Eltern erfolgt; zudem erhalten die Kleinkinder die Nuckelflasche mit z.B. Apfelschorle, Eistee oder speziellen zuckerhaltigen „Kindertees“ zur freien Verfügung zwischendurch und/oder nachts.

Klassifikation

Die American Academy of Pediatric Dentistry (AAPD) definiert die frühkindliche Karies als eine Erkrankung bei Kindern unter 71 Monaten, bei denen mindestens 1 Milchzahn 1 Dentinkaries aufweist bzw. wegen Karies gefüllt oder extrahiert wurde [1]. In einer der bekanntesten Klassifikationen von ECC [24] werden 3 Typen unterschieden. Bei jedem Typ sind jeweils das klinische Bild, die wahrscheinlichste Ursache und die Altersgruppe, bei dem die Kinder meist betroffen sind, aufgeführt.


  1. Abb. 1: ECC Typ 1: isolierte Karies an Milchfrontzähnen. Dr. Schmoeckel
    Abb. 1: ECC Typ 1: isolierte Karies an Milchfrontzähnen.

    ECC Typ I (leicht bis mittelschwer) beschreibt das isolierte Auftreten kariöser Läsionen an Milchmolaren oder Milchschneidezähnen (Abb. 1). Die Ursache ist in der Regel eine Kombination von kariogenen halbfesten oder festen Speisen und einem Mangel an Mundhygiene [8]. Die Anzahl der betroffenen Zähne nimmt gewöhnlich zu, wenn die kariogene Ernährung anhält. Diese Art von ECC ist in der Regel bei Kindern, die 2 bis 5 Jahre alt sind, vorzufinden, was im engeren Sinne nicht mehr das Kleinkindalter betrifft.


  2. Abb. 2: Okklusale Ansicht des Oberkiefers mit ECC Typ II: Hier ist ein typisches
Befallmuster einer mittelschweren Form der ECC bei einem 4-Jährigen dargestellt.
Neben den OK-Schneidezähnen sind zudem auch die 1. Milchmolaren
bereits kariös. Dr. Mourad
    Abb. 2: Okklusale Ansicht des Oberkiefers mit ECC Typ II: Hier ist ein typisches
    Befallmuster einer mittelschweren Form der ECC bei einem 4-Jährigen dargestellt.
    Neben den OK-Schneidezähnen sind zudem auch die 1. Milchmolaren
    bereits kariös.

    ECC Typ II (mittel bis schwer) bezeichnet das Auftreten labiooraler kariöser Läsionen, die die Oberkieferschneidezähne betreffen (Abb. 2). Dies kann je nach Alter des Kindes und Stadium der Erkrankung mit oder ohne Karies an den Milchmolaren einhergehen. Die Schneidezähne im Unterkiefer sind (noch) nicht betroffen. Die Ursache ist in der Regel eine unangemessen häufige Verwendung der Nuckelflasche und/oder ein Dauerstillen (auf Verlangen) in Kombination mit suboptimaler Mundhygiene [12]. Diese Art von ECC kann bereits zeitnah nach Durchbruch der ersten Zähne auftreten, ist damit echte frühkindliche Karies und kann sich bei Fortschreiten zu ECC Typ III weiterentwickeln.

  3. ECC Typ III (schwer) beschreibt ein Gebiss mit kariösen Läsionen, in dem alle Zähne einschließlich der unteren Schneidezähne (also sowohl im OK als auch im UK) betroffen sein können (Abb. 3a und b). Die Ursache ist in der Regel eine Kombination von kariogenen Lebensmitteln und schlechter Mundhygiene.

Abb. 3a: Schwere Form der ECC bei einem 3-jährigen Kind mit typischem Befallmuster:
Neben der OK-Front sind auch die Milchmolaren und hier sogar die
Eckzähne deutlich betroffen. Dr. Schmoeckel
Abb. 3a: Schwere Form der ECC bei einem 3-jährigen Kind mit typischem Befallmuster:
Neben der OK-Front sind auch die Milchmolaren und hier sogar die
Eckzähne deutlich betroffen.
Abb. 3b: Bei ECC Typ III sind neben den kariösen Läsionen im Oberkiefer
(vgl. Abb. 3a) oft auch die Unterkieferzähne betroffen, die wie die unteren
Milchschneidezähne sonst fast nie kariös werden. Dr. Mourad
Abb. 3b: Bei ECC Typ III sind neben den kariösen Läsionen im Oberkiefer
(vgl. Abb. 3a) oft auch die Unterkieferzähne betroffen, die wie die unteren
Milchschneidezähne sonst fast nie kariös werden.

Diese schwere Form findet sich gewöhnlich bei Kindern im Alter zwischen 3 und 5 Jahren. Der Gebisszustand ist beunruhigend desolat, denn es sind auch viele Zahnoberflächen, die in der Regel nicht von Karies betroffen sind, kariös [20].

Risikofaktoren

Zahlreiche Faktoren sind mit einem erhöhten Risiko von ECC assoziiert. Diese sind im Folgenden nach den verschiedenen Ebenen der Beurteilung aufgelistet. Hier spielen, obwohl Karies eine lokale flächenspezifische Erkrankung ist – wie die Auflistung zeigt – insbesondere sozioökonomische Faktoren eine Rolle.

Allgemein: Bevölkerungs- bzw. Patientenebene

  • bildungsfernes Milieu
  • niedriges Einkommen der Eltern
  • schwieriges Wohnumfeld
  • Arbeitslosigkeit der Eltern
  • Migrationshintergrund
  • junge Mütter/Alleinerziehende
  • psychisch kranke Eltern
  • soziale Isolation

Zahnärztlich: individuelle Ebene

  • Initialkaries am Milchzahn (insbes. Oberkieferfrontzähne)
  • sichtbare Plaque (insbes. Oberkieferfrontzähne)
  • häufige Zufuhr zuckerhaltiger Getränke (u.a. Nuckelflasche, nachts)

Epidemiologie von ECC in Deutschland

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Bundesländern/KZV-Bereichen und in Deutschland [21].“ class=“wp-image-41830″/>
Abb. 4: Übersicht zur Prävalenz frühkindlicher Karies (dmft > 0) und Prävalenz eines hohen Schweregrades frühkindlicher Karies (dmft ≥ 4) in den verschiedenen
Bundesländern/KZV-Bereichen und in Deutschland [21].

Das Vorkommen von ECC ist in Deutschland regional verschieden, stellt jedoch bei 3-Jährigen mit einer Prävalenz in verschiedenen Bundesländern von rund 10 bis 17% folglich die häufigste chronische Erkrankung im Kleinkindalter dar (Abb. 4). Jedes siebte 3-jährige Kind in Deutschland hat Karies (dmft > 0) und im Mittel schon 3,6 Zähne mit Karieserfahrung.

Der Anteil der Kinder, die mindestens 4 betroffene Zähne (dmft > 4) haben, liegt bei ca. 5% (Abb. 4). Wegen dieser hohen Anzahl an betroffenen Milchzähnen, des Schweregrads der Zerstörung, des geringen Alters der Kinder und folglich der geringen Kooperationsfähigkeit stellt die frühkindliche Karies eine große zahnmedizinische Herausforderung bei Kleinkindern dar.

Insbesondere bei schweren Formen ist oft nur die Behandlung bzw. meist gar die Extraktion der betroffenen Zähne in Narkose möglich. Doch welche Folgen und potenziellen Spätfolgen genau kommen dann auf diese Kinder zu?

Folgen unbehandelter frühkindlicher Karies

Beeinträchtigung der Lebensqualität

ECC kann einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität der betroffenen Kinder haben, denn Mundgesundheit bedeutet mehr als „nur“ gesunde Zähne. Die Mundgesundheit beeinflusst die Menschen körperlich und psychisch und beeinflusst, wie sie wachsen, schauen, sprechen, kauen, schmecken, sich sozialisieren, und auch die Gefühle sowie das soziale Wohlbefinden [9]. Die Lebensqualität der Kinder kann also insbesondere aufgrund von Schmerzen und Unannehmlichkeiten als Folge schwerer Formen der frühkindlichen Karies ernsthaft beeinträchtigt werden.

Akute und chronische Infektionen als Folge frühkindlicher Karies können zu veränderten Ess- und Schlafgewohnheiten führen. Zudem besteht dann stets das Risiko von Krankenhausaufenthalten, was neben gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit hohem Aufwand und hohen Behandlungskosten einhergeht [6,10,16,18]. Oftmals können, wie beschrieben, bei ECC geplante Zahnbehandlungen nur in Vollnarkose durchgeführt werden.

Nicht selten werden dabei die meist sehr tief kariös zerstörten OK-Frontzähne extrahiert, die oftmals über eine lange Zeit hinweg Zahnschmerzen und mitunter auch Abszesse verursacht haben (Abb. 3a). Abgesehen von den potenziellen Risiken einer Narkose kann ein damit einhergehendes Verpassen von Tagen in Kindergarten bzw. Vorschule oder später auch von Schultagen einen negativen Einfluss auf die Entwicklung und folglich auf das Bildungsniveau haben [11].

Bei den meisten kleinen Kindern ist ECC zudem mit einem verringerten Wachstum und einer Gewichtszunahme aufgrund eines unzureichenden Nahrungsmittelverbrauchs verbunden. Denn die Nahrungsaufnahme übersteigt meist den Stoffwechsel- und Wachstumsbedarf bei Kindern unter 2 Jahren [11].

Kindeswohlgefährdung/Kindeswohlvernachlässigung

Auf der Ebene des Sozialen ist eine beunruhigende Assoziation zwischen ECC und Kindeswohlgefährdung bekannt. Dazu gehört die Vernachlässigung ebenso wie die körperliche und seelische Misshandlung. ECC stellt also oftmals einen frühen Marker für Kindeswohlgefährdung dar.

Insbesondere bei schweren Formen gilt es, die familiäre und soziale Situation gut einzuschätzen, um Hilfsangebote auszusprechen oder ggf. das lokale Jugendamt mit einzuschalten [15]. Eine dysfunktionale familiäre oder soziale Situation kann zu einem Wiederauftreten von ECC führen, oft ist dies mit emotionalen Ausbrüchen und Bedrohung oder tatsächlicher Gewalt assoziiert [17,3]. Die Korrelation zwischen ECC und Kindeswohlgefährdung ist bekannt, aber erst seit wenigen Jahren haben Experten auf dem Gebiet der Kindesmisshandlung Karies bzw. ECC auf ihrer Liste der gesundheitlichen Indikatoren für Kindeswohlgefährdung [4,22].

Leider ist es so, dass diese Kinder meist auch im Verlauf des Lebens noch stark von diesen Erfahrungen in der Kindheit beeinflusst werden. Für das zahnärztliche Personal kann so die Information, dass ein Kind bei einer Pflegefamilie aufwächst, ein wichtiger Marker für Karieserfahrung im Milchgebiss darstellen. Wenn die Kinder erst kurze Zeit dort leben, ist die Karies meist unbehandelt, aufgrund des verbesserten Umfelds gilt es dann jedoch, gemeinsam den Hebel umzuschalten (s. Abschnitt Kariesmanagement).

Spätfolgen von frühkindlicher Karies

Kariesmanagement und Kariesrisiko

Bei Kindern mit ECC, also Karieserfahrung im Milchgebiss, liegt ein deutlich erhöhtes Kariesrisiko auch für die permanente Dentition vor [7,14]. Die Entwicklung neuer kariöser Läsionen sowohl im Milchgebiss als auch im bleibenden Gebiss gilt es bei diesen Kindern durch ein funktionierendes Präventionskonzept zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Dabei sind eine ausreichende häusliche Mundhygiene und Fluoridnutzung, das Abstellen der hochfrequenten Gabe zuckerhaltiger Getränke, ein risikogerechter Recall zur Motivation/Instruktion und Fluoridapplikation essenziell [23].

Ein frühzeitiges Erkennen von Risikopatienten/-innen ist sehr wichtig, dazu sind sichtbare Plaque auf den Frontzähnen und aktive kariöse Läsionen (Abb. 5) sehr gute Marker. Laut einer sehr groß angelegten aktuellen Studie aus Schweden bei knapp 130.000 Kleinkindern wurde die Kariesentwicklung in Abhängigkeit von den genauen flächenspezifischen Kariesbefallmustern im Milchgebiss untersucht (Abb. 6). Dabei zeigten beispielsweise 83% der 5-Jährigen mit einer schweren Form der ECC auch Karies im permanenten Gebiss, während vergleichsweise „nur“ 51% der Kinder (5 Jahre alt) mit sogenannten kariesfreien Milchgebissen im Verlauf der nächsten 5 Jahre (also bis Studienende) Karies im permanenten Gebiss aufwiesen (Odds Ratio von 4,9) [5].

Abb. 5: Gingivitis und Karies bei einem 12 Monate alten Kind sind frühe Zeichen
von ECC. Die kariösen Läsionen sind meist erst nach Plaqueentfernung zu
detektieren. Dr. Schmoeckel
Abb. 5: Gingivitis und Karies bei einem 12 Monate alten Kind sind frühe Zeichen
von ECC. Die kariösen Läsionen sind meist erst nach Plaqueentfernung zu
detektieren.
Abb. 6: Grafische Darstellungen der flächenspezifischen Kariesverteilung von ECC (links) und die später darauffolgenden Muster des Kariesbefalls im permanenten Gebiss
(rechts) auf Basis von knapp 130.000 Kleinkindern in Schweden. Die Befallmuster der jeweiligen „Class“ ähneln sich im Milch- und bleibenden Gebiss (Abb. aus [5]). Dr. Schmoeckel
Abb. 6: Grafische Darstellungen der flächenspezifischen Kariesverteilung von ECC (links) und die später darauffolgenden Muster des Kariesbefalls im permanenten Gebiss
(rechts) auf Basis von knapp 130.000 Kleinkindern in Schweden. Die Befallmuster der jeweiligen „Class“ ähneln sich im Milch- und bleibenden Gebiss (Abb. aus [5]).

Ästhetik und Sprache

Neben einem verspäteten Zahndurchbruch der permanenten Nachfolger und einer eingeschränkten Ästhetik kann ein Fehlen der OK-Frontzähne auch die Sprachentwicklung beeinträchtigen (Abb. 7). Als möglichen Lösungsansatz bieten sich dafür, sofern Kind und Eltern dies wünschen, die Anfertigung einer Kinderprothese an (Abb. 8) und indikationsgerecht auch eine begleitende logopädische Therapie an.

Abb. 7: Die Folgen von frühkindlicher Karies und deren Therapie sind lange im
Gebiss erkennbar: Das komplette Fehlen der Frontzähne für eine lange Zeit kann
vermehrt zu Sprachproblemen führen und resultierte bei diesem 9-jährigen Kind
zusätzlich in Hänseleien in der Schule. Der „verspätete Zahndurchbruch“ der
permanenten Nachfolger ist oft Folge der sehr frühzeitigen Milchzahnextraktion. Dr. Schmoeckel
Abb. 7: Die Folgen von frühkindlicher Karies und deren Therapie sind lange im
Gebiss erkennbar: Das komplette Fehlen der Frontzähne für eine lange Zeit kann
vermehrt zu Sprachproblemen führen und resultierte bei diesem 9-jährigen Kind
zusätzlich in Hänseleien in der Schule. Der „verspätete Zahndurchbruch“ der
permanenten Nachfolger ist oft Folge der sehr frühzeitigen Milchzahnextraktion.
Abb. 8: Okklusale Ansicht eines Oberkiefers mit einer Kinderprothese bei einem
4-jährigen Kind zur Kompensation des frühzeitigen Milchzahnverlustes. In
diesem Fall dient die Kinderprothese zugleich als Lückenhalter nach der vorzeitigen
Extraktion der 1. Milchmolaren, sodass ästhetische und funktionelle
Rehabilitation kombiniert werden. Das Zeitfenster, in der dies genutzt werden
kann, ist jedoch recht klein: Alter von ca. 3 bis 5,5 Jahre. Dr. Mourad
Abb. 8: Okklusale Ansicht eines Oberkiefers mit einer Kinderprothese bei einem
4-jährigen Kind zur Kompensation des frühzeitigen Milchzahnverlustes. In
diesem Fall dient die Kinderprothese zugleich als Lückenhalter nach der vorzeitigen
Extraktion der 1. Milchmolaren, sodass ästhetische und funktionelle
Rehabilitation kombiniert werden. Das Zeitfenster, in der dies genutzt werden
kann, ist jedoch recht klein: Alter von ca. 3 bis 5,5 Jahre.

Der „verspätete Zahndurchbruch“ der permanenten Nachfolger tritt bei sehr frühzeitiger Extraktion eines Milchzahnes häufig auf [13]. Dies ist jedoch, wie in diesem Fall bei den Frontzähnen, nicht direkt zu beeinflussen. Falls jedoch die permanenten Zähne nicht physiologisch durchbrechen sollten, könnte eine kombinierte chirurgisch-kieferorthopädische Unterstützung nötig sein.

Lückeneinengung bei „frühzeitigem Milchzahnverlust“ in der Stützzone

Abb. 9a: Bei diesem 9-jährigen Jungen wurden im Alter von 2 Jahren wegen
akuter Zahnschmerzen aufgrund von ECC und mangelnder Kooperation diverse
tief kariös zerstörte Milchzähne (Inzisivi und 1. Milchmolar) in Intubationsnarkose
entfernt. Der nachfolgende Durchbruch der 2. Milchmolaren erfolgte unter deutlich
verbesserten Bedingungen. Diese aktuelle Oberkieferansicht zeigt einen verzögerten
Durchbruch der permanenten Oberkieferfrontzähne und bei genauem
Hinsehen auch, dass ein vollständiger Lückenschluss beidseitig aufgrund der
vorzeitigen Extraktion der 1. Milchmolaren erfolgte. Dr. Schmoeckel
Abb. 9a: Bei diesem 9-jährigen Jungen wurden im Alter von 2 Jahren wegen
akuter Zahnschmerzen aufgrund von ECC und mangelnder Kooperation diverse
tief kariös zerstörte Milchzähne (Inzisivi und 1. Milchmolar) in Intubationsnarkose
entfernt. Der nachfolgende Durchbruch der 2. Milchmolaren erfolgte unter deutlich
verbesserten Bedingungen. Diese aktuelle Oberkieferansicht zeigt einen verzögerten
Durchbruch der permanenten Oberkieferfrontzähne und bei genauem
Hinsehen auch, dass ein vollständiger Lückenschluss beidseitig aufgrund der
vorzeitigen Extraktion der 1. Milchmolaren erfolgte.

Nach frühzeitiger Extraktion der Milchmolaren können eine Lückeneinengung und folglich ein Platzmangel für die bleibenden Zähne, wie die Abbildungen zeigen (Abb. 9a bis c), entstehen. Deshalb ist zur Vermeidung von zukünftigen Zahnbehandlungen, wie z.B. der Extraktion von Prämolaren aufgrund von Platzmangel, das Einsetzen eines Lückenhalters zeitnah nach Extraktion des Milchzahnes sehr empfehlenswert. Dafür bieten sich 2 Möglichkeiten an: festsitzende Lückenhalter (Abb. 10a) oder herausnehmbare Lückenhalter (Abb. 10b) [2,19].

Abb. 9b: Die frühzeitige Extraktion von Zahn 74 hat zur Lückeneinengung in der
Stützzone mit einem Platzmangel für die bleibenden Zähne geführt, die jedoch
nicht so stark ausgeprägt ist wie im Oberkiefer des Patienten (s. Abb. 9a). Dr. Schmoeckel
Abb. 9b: Die frühzeitige Extraktion von Zahn 74 hat zur Lückeneinengung in der
Stützzone mit einem Platzmangel für die bleibenden Zähne geführt, die jedoch
nicht so stark ausgeprägt ist wie im Oberkiefer des Patienten (s. Abb. 9a).
Abb. 9c: Röntgenbild (OPG) des 9-jährigen Kindes aus Abb. 9a und 9b, bei dem
die Anlagen der permanenten Nachfolger 14 und 24 klar zu sehen sind (rote
Pfeile), aber klinisch deutlich ausgeprägter als für Zahn 34 kein ausreichender
Platz zu finden ist. Gut erkennbar ist auch, dass im Gegensatz zum Unterkiefer
der Zahndurchbruch in der Oberkieferfront deutlich verspätet ist. Dr. Schmoeckel
Abb. 9c: Röntgenbild (OPG) des 9-jährigen Kindes aus Abb. 9a und 9b, bei dem
die Anlagen der permanenten Nachfolger 14 und 24 klar zu sehen sind (rote
Pfeile), aber klinisch deutlich ausgeprägter als für Zahn 34 kein ausreichender
Platz zu finden ist. Gut erkennbar ist auch, dass im Gegensatz zum Unterkiefer
der Zahndurchbruch in der Oberkieferfront deutlich verspätet ist.
Abb. 10a: Ein festsitzender Lückenhalter bietet einen guten Lösungsansatz, um
eine potenzielle Lückeneinengung zuverlässig zu vermeiden, was das Problem
des Nichttragens oder des Verlustes herausnehmbarer Lückenhalter ausschließt.
Zudem besteht die Möglichkeit des Einsetzens direkt nach der Extraktion. Dr. Mourad
Abb. 10a: Ein festsitzender Lückenhalter bietet einen guten Lösungsansatz, um
eine potenzielle Lückeneinengung zuverlässig zu vermeiden, was das Problem
des Nichttragens oder des Verlustes herausnehmbarer Lückenhalter ausschließt.
Zudem besteht die Möglichkeit des Einsetzens direkt nach der Extraktion.
Abb. 10b: Klassischer herausnehmbarer Lückenhalter zum Lückenmanagement
in regio 74 und 84, der allerdings eine Compliance beim Tragen erfordert Adamsklammern
an den 2. Milchmolaren und C-Klammern an den Milcheckzähnen
bieten sich hier an. Dr. Mourad
Abb. 10b: Klassischer herausnehmbarer Lückenhalter zum Lückenmanagement
in regio 74 und 84, der allerdings eine Compliance beim Tragen erfordert Adamsklammern
an den 2. Milchmolaren und C-Klammern an den Milcheckzähnen
bieten sich hier an.

Dabei haben beide Varianten ihre Vor- und Nachteile. Vorteilhaft beim festsitzenden Lückenhalter ist die Möglichkeit des Einsetzens direkt nach der Extraktion (also auch in Narkose), womit das Problem des „Nichttragens“ umgangen wird. Zudem kann an den festen Lückenhalter ein „Distal Shoe“ angefügt werden, sodass bei einer frühzeitigen Entfernung eines 2. Milchmolaren vor Durchbruch des 1. permanenten Molaren der Platz erhalten bleiben kann (Abb. 11a und b).

Abb. 11a u. b: Fester Lückenhalter im Band and Loop System (hier von DENOVO)
mit Distal Shoe (a) und dessen Inkorporation bei einem Patienten in regio 64/65. Dr. Schmoeckel
Abb. 11a u. b: Fester Lückenhalter im Band and Loop System (hier von DENOVO)
mit Distal Shoe (a) und dessen Inkorporation bei einem Patienten in regio 64/65.
Abb. 11a u. b: Fester Lückenhalter im Band and Loop System (hier von DENOVO)
mit Distal Shoe 
(b) bei frühzeitiger Entfernung eines 2. Milchmolaren vor Durchbruch des 1. permanenten
Molaren zur Vermeidung einer Lückeneinengung durch den später
durchbrechenden 6er. Ohne diese Lückenmanagementmaßnahme ist ein i.d.R.
unerwünschter spontaner Lückenschluss sehr wahrscheinlich. Dr. Schmoeckel
Abb. 11a u. b: Fester Lückenhalter im Band and Loop System (hier von DENOVO)
mit Distal Shoe
(b) bei frühzeitiger Entfernung eines 2. Milchmolaren vor Durchbruch des 1. permanenten
Molaren zur Vermeidung einer Lückeneinengung durch den später
durchbrechenden 6er. Ohne diese Lückenmanagementmaßnahme ist ein i.d.R.
unerwünschter spontaner Lückenschluss sehr wahrscheinlich.

Abb. 12: Herausnehmbarer UK-Lückenhalter zur gleichzeitigen Versorgung
multipler Lücken. Dr. Mourad
Abb. 12: Herausnehmbarer UK-Lückenhalter zur gleichzeitigen Versorgung
multipler Lücken.

Nachteilig ist, dass die Kosten i.d.R. privat getragen werden müssen und die festen Lückenhalter mitunter herausfallen oder verrutschen bzw. sogar in das Zahnfleisch einwachsen können. Vorteilhaft beim herausnehmbaren Lückenhalter ist die Möglichkeit der Versorgung mehrerer Lücken mit einer Apparatur (Abb. 10b) und auch großer Lücken, wenn der 1. und 2. Milchmolar in einem Quadranten entfernt wurden (Abb. 12). Des Weiteren ist es beim herausnehmbaren Lückenhalter vorteilhaft, dass dieser zum Reinigen herausgenommen werden kann.

Zugleich ist es nachteilig, dass er herausgenommen werden kann, denn so wird der Lückenhalter häufig vergessen und nicht getragen. Folglich verbleibt er oftmals lange Zeit (Wochen/Monate) außerhalb des Mundes und passt dann unter Umständen nicht mehr. In Tabelle 2 sind wesentliche Aspekte dargestellt, die bei der Entscheidungsfindung bezüglich festsitzender oder herausnehmbarer passiver Lückenhalter eine Rolle spielen.

Aspekt festsitzende Lückenhalter herausnehmbarer Lückenhalter
Reinigung – Reinigung im Mund schwieriger + gute extraorale Reinigung des Lückenhalters möglich
+ gute Reinigung der Lücke möglich, oftmals haben Nachbarzähne approximal auch Initialkaries
+ daher dadurch keine weitere Erhöhung des Kariesrisikos
Aufwand + sofort – auch in ITN – einsetzbar, bei weiten Anfahrtswegen wichtig / Terminanzahl reduzieren – Abdruck notwendig (Kooperation), Laborherstellung -> 2. Termin nötig
Kosten/Vergütung – privat zu bezahlen, je nach Praxis in einer Spanne von ca. 60 bis 150 Euro + Kassenleistung, 123a und 123b
+ gut kombinierbar mit dem 01/IP-Programm
Größe der Lücke – nur bei Einzelzahnlücke + auch nach Extraktion von Milch-4er und -5er in einem Quadranten einsetzbar, sofern der -6er schon durchgebrochen ist
Art der Lücke + auch als Distal Shoe möglich, also nach Extraktion eines endständigen Zahnes nutzbar („Milch-5er Ex vor Durchbruch 6er“) – nur bei einer Lücke nutzbar, und daher nicht nach Extraktion eines endständigen Zahnes nutzbar
Weitere Nachteile – können ins Zahnfleisch einwachsen
– können dezementieren (-> Rezementierung meist möglich)
– können verrutschen
– werden häufig nicht getragen oder gehen verloren
– können brechen (Reparatur meist möglich)

Persönliche Empfehlungen (der Autoren) zum Lückenmanagement:

  • möglichst immer nach frühzeitiger Entfernung eines Milchmolaren (insbesondere bis Durchbruch UK 3er)
  • zeitnah/innerhalb weniger Wochen, wenn > 1,5 Jahre vor physiologischer Exfoliation
  • v.a. bei Extraktion eines Milch-5er vor Durchbruch des 6ers, dann sofort Distal Shoe (s. Abb. 11a und b)

Regelhafte präventive passive Lückenhalter sind auch gesundheitsökonomisch sinnvoll, da die KFO-Therapie teuer und bei Kariesrisikokindern nicht immer sinnvoll ist. Selbst wenn dadurch nur bei jedem 10. Kind eine KFO-Therapie vermieden würde, wäre dies schon kostenwirksam für die Krankenversicherung. Abschätzungsweise tritt bei etwa 1/4 der Kinder mit frühzeitigem Milchzahnverlust aber ohne Lückenmanagement eine klinisch relevante Lückeneinengung auf.

Merkbox
  • ECC ist ein früher und wichtiger Marker für Kindeswohlgefährdung/Kindeswohlvernachlässigung. Insbesondere bei schweren Formen gilt es, die familiäre und soziale Situation gut einzuschätzen, Hilfsangebote zu unterbreiten und sich bei Bedarf mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen.
  • Kinder mit Karies im Milchgebiss unterliegen einem deutlich erhöhten Risiko der Entwicklung von Karies in der permanenten Dentition mit ähnlichem Befallsmuster.
  • Bei diesen Kindern gilt es daher, die Entwicklung neuer kariöser Läsionen sowohl im Milchgebiss als auch im bleibenden Gebiss durch ein wirksames individuelles Präventionskonzept zu vermeiden oder zumindest zu minimieren.
  • Ein Lückenmanagement mit festsitzenden oder herausnehmbaren Lückenhaltern ist im Seitenzahngebiet bei frühzeitiger Extraktion von Milchzähnen stets in Betracht zu ziehen. Dazu müssen individuell die jeweiligen Vor-/Nachteile berücksichtigt werden.
  • Nach frühzeitiger Frontzahnextraktion im Oberkiefer kann durch die Anfertigung einer Kinderprothese mit begleitender logopädischer Therapie mitunter neben der Ästhetik auch die Sprache verbessert werden.

Fazit

ECC hat nicht nur einen Einfluss auf Kinder während der Milchgebissphase, sondern kann auch weitreichende negative Folgen für die Lebensqualität und die weitere Gebissentwicklung bedeuten. Folglich ist zusätzlich zur Zahnbehandlung in Narkose, wie es bei schweren Formen der ECC häufig der Fall ist, aus zahnärztlicher Perspektive ein langfristig funktionierendes Präventions- und Kariesmanagementkonzept (Tertiärprävention) inkl. Lückenmanagement unabdingbar.

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