Zahnmedizinische Präventions-App für Menschen mit Migrationshintergrund zeigt Wirksamkeit

Menschen mit Migrationshintergrund haben eine schlechtere Mundgesundheit als Menschen ohne Migrationshintergrund. Mehr Wissen zur Mundgesundheit, vermittelt über eine App, soll dies ändern. Ob ein Zuwachs an zahnmedizinischem Wissen zu Prävention und zum deutschen Gesundheitssystem tatsächlich eine bessere Mundgesundheit für diese Patientinnen und Patienten zur Folge hat, zeigt nun die Auswertung der Begleitstudie. Dazu haben wir die Projektleitung befragt.
Redaktion PnC: Frau Dr. Aarabi, wie steht es um die Mundgesundheit und Mundgesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund (MmM) in Deutschland?
PD Dr. Ghazal Aarabi: MmM weisen eine schlechtere Mundgesundheit auf als Menschen ohne Migrationshintergrund (MoM). Sie haben einen höheren DMFT-Index und einen niedrigeren Kariessanierungsgrad und somit mehr behandlungsbedürftige Zähne. Wir wissen aus der Literatur und aus eigenen Studien, dass die Zahnputzfrequenz bei MmM niedriger ist.
Das ist auch belegt durch Daten der KiGGS-Studie [Schenk und Knopf 2007], die zeigen, dass sich Kinder mit einem beidseitigen Migrationshintergrund weniger häufig die Zähne putzen. MmM weisen einen höheren Plaque- und BOP-Index (Bleeding on Probing) auf.
Die Mundgesundheitskompetenz, also das Wissen über die Mundgesundheit und auch die Verarbeitung und Anwendung dieses Wissens, ist bei MmM niedriger als bei MoM. Außerdem zeigt die Zielgruppe ein eher beschwerdeorientiertes Inanspruchnahmeverhalten und hat seltener einen festen Zahnarzt.
Ist „Migrationshintergrund“ tatsächlich als ein Risikofaktor für eine mangelnde Mundgesundheit und Mundgesundheitskompetenz zu sehen?
PD Dr. Aarabi: Migrationshintergrund ist ein eigenständiger Risikofaktor, und zwar sind primär Migrantinnen und Migranten sowie Menschen mit beidseitigem Migrationshintergrund betroffen. Der Grad der Akkulturation ist bei einem einseitigen Migrationshintergrund deutlich höher. Wir wissen auch, dass es zwischen dem Migrationshintergrund und dem sozioökonomischen Status einen kumulativen Effekt gibt.
Woran liegt es, dass MmM die zahnmedizinische Versorgung hierzulande offenbar nur eingeschränkt wahrnehmen und Prävention eher vernachlässigt wird?
Berit Lieske: Genau bei dieser Frage setzt das MuMi-Projekt an. Wir wissen bereits aus der Literatur, dass MmM verschiedenen Barrieren gegenüberstehen, die ihnen den Zugang zur zahnärztlichen Versorgung in Deutschland erschweren. Zudem haben wir zu Beginn des MuMi-Projektes Fokusgruppen mit der Zielgruppe durchgeführt, um diese Themen genauer zu diskutieren und die Hintergründe zu beleuchten.
Dabei konnten wir sehen, dass Sprachbarrieren eine große Hürde darstellen. Oftmals sind Gesundheitsinformationen nicht in verschiedenen Sprachen verfügbar. Das erschwert zunächst den Zugang zu diesen Informationen, aber eben auch das Verständnis und die Anwendung dieser Informationen.
Aufgrund von Sprachbarrieren kann es außerdem zu Kommunikationsschwierigkeiten mit den Zahnärztinnen und Zahnärzten selbst kommen, was dann wiederum das Verhältnis zwischen Patient/Patientin und Arzt/Ärztin sowie die Interaktion erschweren kann. Das kann zu Missverständnissen oder zu negativen Erfahrungen auf beiden Seiten führen.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass MmM zusätzlich zu einem durchschnittlich niedrigeren Wissen über die Mundgesundheit, auch ein geringeres Wissen über das deutsche Gesundheitssystem und die zahnärztliche Versorgung in Deutschland aufweisen. Wir stellen beispielsweise fest, dass sie oftmals eine größere Angst vor Schmerzen und vor Kosten haben. Das kann auch mit Erfahrungen des eigenen Gesundheitssystems zu tun haben.
Wir sehen, dass Menschen aus anderen Gesundheitssystemen oder Kulturkreisen teilweise andere Gesundheitspraktiken pflegen oder eine andere Sozialisierung zu Gesundheitsthemen genossen haben. D.h. die Bedeutung und der Stellenwert der Mundgesundheit können andere sein: Während wir hier in Deutschland ein Präventionskonzept pflegen, kann das in anderen Ländern anders, zum Beispiel eher beschwerdeorientiert, sein. Diese Erkenntnisse sind dann wiederum in die Entwicklung des Schulungsprogramms eingeflossen.
Neben den genannten Barrieren, welche weiteren Aspekte wurden im Vorfeld untersucht, welche Quellen herangezogen?
PD Dr. Aarabi: Wir haben eine Literaturrecherche durchgeführt sowie Interviews mit Expertinnen und Experten geführt. Es wurden Leitlinien zur zahnärztlichen Prävention herangezogen, Interviews mit Stakeholdern, z.B. mit Personen von der Bundeszahnärztekammer, durchgeführt.
Außerdem wurden Personen, die in der Versorgung von Patientinnen und Patienten tätig sind, also Zahnärztinnen und Zahnärzte, zahnmedizinische Prophylaxeassistentinnen und -assistenten (ZMPs), Dentalhygienikerinnen und -hygieniker (DHs) sowie Personen aus der Migrations- und Versorgungsforschung (z.B. Gesundheitswissenschaftlerinnen und Gesundheitswissenschaftler oder Psychologinnen und Psychologen) interviewt. Wir haben im Rahmen dieser Interviews mit Expertinnen und Experten eruiert, welche Themen besonders relevant für unsere Zielgruppe sind, um diese zusätzlich zu den Informationen aus den zahnmedizinischen Leitlinien in der App zu adressieren.
Wie konnten Sie Ihre Ergebnisse aus der Vorarbeit in die Konzeption des Schulungsprogramms einbeziehen?
PD Dr. Aarabi: Aufgrund der Erkenntnisse unserer Vorarbeit haben wir die App in 3 Säulen aufgebaut. Im Bereich „Was sollte ich tun?“ spielen Inhalte wie Ernährung, Mundhygiene, Fluoridierung und das Inanspruchnahmeverhalten eine Rolle. Im Bereich „Was sollte ich wissen?“ geht es um die Anatomie sowie um die Interaktion zwischen der Zahn- und Mundgesundheit und der allgemeinen Gesundheit.
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Die MuMi-App ist in diesen 3 Säulen aufgebaut. In der Säule „Helfen“ wird das
deutsche Gesundheitssystem erklärt, damit Menschen mit Migrationshintergrund
einen besseren Zugang zur zahnmedizinischen Versorgung finden.
© Aarabi/Lieske
In der Säule „Helfen“ wird das deutsche Gesundheitssystem erklärt. Gerade dieser Punkt ist besonders auf die Bedürfnisse von MmM ausgerichtet: Welche Fachärzte gibt es, wo kann ich Informationen herbekommen, wie verhalte ich mich in der Zahnarztpraxis, was muss ich mitbringen, wenn ich zum ersten Mal hingehe?
Wie haben Sie in der MuMi-App eine zielgruppengerechte, „migrationssensible“ Ansprache umgesetzt?
Lieske: Zunächst einmal ist die App nicht nur in der deutschen Sprache, sondern auch in 4 weiteren Sprachen – Englisch, Türkisch, Arabisch und Russisch – verfügbar. Wir haben dabei mit professionellen Übersetzerinnen und Übersetzern und auch Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern mit fachlichem Hintergrund zusammengearbeitet. In den Textbausteinen der App wurde eine sehr einfache, laiengerechte Sprache verwendet.
Außerdem haben wir mit sehr viel Bildmaterialien gearbeitet. So haben wir Inhalte unterstützt durch Piktogramme, Videos und Gambling-Komponenten dargestellt, da eine bildgebende Sprache Menschen nachweislich dabei hilft, Informationen zu verstehen und anzuwenden. Um die kulturelle Diversität der Zielgruppe abzubilden, haben wir bei den Abbildungen auf eine kultur- und migrationssensible Darstellung geachtet.
Das heißt, in den Piktogrammen wurden beispielsweise Personen (z.B. durch Darstellung verschiedener Ethnien) und Lebensmittel aus verschiedenen Kulturkreisen gewählt. So wurden nicht nur Abbildungen von „Gummibärchen“ als zuckerhaltige Süßigkeit aus Deutschland in den Piktogrammen abgebildet, sondern beispielsweise auch das „Baklava“ als typische zuckerhaltige Nachspeise aus dem türkischen Raum integriert. Aus anderen Ländern und Kulturkreisen wurden ebenfalls Beispiele gewählt, um verschiedene Personengruppen innerhalb der Zielgruppe anzusprechen.
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Um die kulturelle Diversität der Zielgruppe abzubilden, werden in der
MuMi-App Personen aus verschiedenen Kulturkreisen dargestellt. Auch das
Thema Ernährung wurde kultursensibel ausgestaltet. Die App steht in 5 Sprachen
zur Verfügung.
© Aarabi/Lieske -
Auch das Thema Ernährung wurde kultursensibel ausgestaltet:
Honig gilt im orientalischen Raum als sehr gesund. Daher wird über diese
Multiple-Choice-Auswahl gezeigt, dass Honig ebenso wie Limonade und
Schokolade viel Zucker enthält und somit die Zahngesundheit gefährdet.
© Aarabi/Lieske
Weshalb haben Sie sich für die Form einer App für das Schulungsprogramm entschieden?
Lieske: Gerade in den letzten Jahren konnten wir ein Wachstum und eine zunehmende Bedeutung von digitalen Schulungsprogrammen zur Gesundheitsprävention beobachten. Vor diesem Hintergrund haben wir uns für die Form einer App entschieden.
Erst 2019 wurde das Digitale-Versorgung-Gesetz verabschiedet und auf dem Markt gibt es bereits enorm viele mHealth-Applikationen; gerade im Bereich Fitness. Der Großteil dieser Apps wird jedoch von großen Firmen entwickelt. Wir sehen, dass es einen großen Mangel an evidenzbasierten Apps gibt, die mit Fachkräften aus der Gesundheitsbranche oder aus der Medizin entwickelt werden. Apps für vulnerable Gruppen sind außerdem besonders rar.
Man kennt es selbst aus dem Alltag: Jede Person hat ein Smartphone heutzutage, und gerade für Migrantinnen und Migranten, die das Telefon auch beispielsweise als Kommunikationsmittel mit dem Herkunftsland benutzen, erschien uns die App als sehr effektives und barrierefreies Tool, um genau diese Informationen umfangreich und auf spielerische Art und Weise an die Personen zu bringen. Und dazu kommt, dass man das Schulungsprogramm per App auch unterwegs nutzen kann.
Zur Nutzung der App im Rahmen der MuMi-Studie: Wurde den Probanden/-innen zunächst erklärt, wie die einzelnen Bereiche in der App abgearbeitet werden sollen?
PD Dr. Aarabi: Das ist eine spannende Frage. Die Probandinnen und Probanden haben beim Zahnarztbesuch einen QR-Code bekommen und sollten sich dann die App downloaden. Wir hatten bei der Konzipierung der App auf eine sehr einfache und selbsterklärende Handhabung geachtet, sodass die Probandinnen und Probanden die Inhalte der App leicht finden und sich selbst durchnavigieren können. Daher war in der Projektkonzipierung keine Einführung in die App durch das Praxispersonal vorgesehen.
Wir haben jetzt in unseren Auswertungen gesehen, dass die Bereitschaft, die App zu nutzen, deutlich höher ist, wenn der Aufbau und die Idee hinter der App kurz erklärt werden. Es erscheint somit sinnvoll, die App zukünftig mit den Patientinnen und Patienten kurz durchzugehen und zu erläutern, um die Akzeptanz und Anwendung der App zu steigern. Dies wäre eine Modifizierung unseres Studiendesigns, die wir bei zukünftigen Studien integrieren würden.
Ergebnisse: Je besser die Mundhygienekompetenz, desto besser die Mundhygiene! Sie haben die Daten Ihrer Studie gerade ausgewertet.
Konnte durch die Nutzung der App für ca. ein halbes Jahr eine Verbesserung der Mundgesundheit erreicht werden?
PD Dr. Aarabi: Wir haben sehr erfreuliche Ergebnisse. Wir können bei Personen, die die App genutzt haben, eine signifikante Verbesserung der Mundgesundheitskompetenz aufzeigen. Außerdem konnten wir für den Bereich der Mundhygiene – gemessen anhand des APIs – eine signifikante Verbesserung der API-Werte bei den Appnutzerinnen und -nutzern beobachten.
Sie gingen von der Annahme aus, dass eine niedrigere Mundgesundheitskompetenz ausschlaggebend für die mundgesundheitlichen Unterschiede zwischen MmM und MoM sein könnte und somit eine Verbesserung der Mundgesundheit durch höhere Mundgesundheitskompetenz erreicht werden kann. Hat sich Ihre Hypothese bestätigt?
PD Dr. Aarabi: Je besser die Mundgesundheitskompetenz, desto besser ist zum einen das Wissen über das Mundhygieneverhalten und zum anderen die Anwendung dieses Wissens, die wir anhand von klinischen Parametern wie dem API gemessen haben.
Das ist ja ein erfreuliches Ergebnis …
PD Dr. Aarabi: Ja, dies war ein Grund, Silvester kräftig zu feiern. Man ist sehr gespannt auf die Ergebnisse, auf die man 3, 4 Jahre hingearbeitet hat. Und was uns bezüglich unserer Ergebnisse sehr freut, ist, dass Migrantinnen und Migranten, Personen mit einem beidseitigen Migrationshintergrund und Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status am stärksten von der App profitieren.
Was passiert nun mit der MuMi-App? Wird sie allen Interessierten kostenfrei zur Verfügung gestellt?
PD Dr. Aarabi: Viele niedergelassene Kolleginnen und Kollegen haben großes Interesse bekundet. Wir haben Anfragen aus Berlin und Frankfurt. Die Intention von meinem Kooperationspartner Herrn Dr. Kofahl und mir ist es, die App der allgemeinen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.
Aber eine App muss gewartet werden, Updates müssen bereitgestellt werden. Dafür müssten wir eine Finanzierung sicherstellen.
Das ist jetzt unsere Hausaufgabe. Die Industrie hat bereits Interesse bekundet, wir prüfen aktuell die Möglichkeit, einen Folgeantrag bei unserem Förderer zu stellen.
Wenn die Finanzierung steht, sind Erweiterungen geplant?
PD Dr. Aarabi: Wir könnten uns vorstellen, die App auch für Kinder und Jugendliche weiterzuentwickeln. Beispielsweise wissen wir, dass gerade die Nuckelflaschenkaries bei MmM ausgeprägt ist, und wir denken, dass wir da gute präventive Arbeit leisten können. Es gibt noch weitere Sprachen, die wir gerne integrieren möchten. In einem Dreivierteljahr können wir Genaueres sagen.
Vielen Dank für das Interview!