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Je früher die Förderung beginnt, desto nachhaltiger die Wirkung

Präventionspreis „Frühkindliche Karies“ geht an ein Projekt der Uni Hannover

Die Preisträger des Präventionspreises „Frühkindliche Karies“: (v. l.) Prof. Dr. Hüsamettin Günay (1. Platz), Dr. Gudrun Rojas, Bettina Bels (3. Platz) und Dr. Michael Schäfer (2. Platz). Neben dem Frühförderkonzept der Medizinischen Hochschul
Die Preisträger des Präventionspreises „Frühkindliche Karies“: (v. l.) Prof. Dr. Hüsamettin Günay (1. Platz), Dr. Gudrun Rojas, Bettina Bels (3. Platz) und Dr. Michael Schäfer (2. Platz). Neben dem Frühförderkonzept der Medizinischen Hochschul

Es ist keine neue Erkenntnis, dass Prävention früh ansetzen muss, um ihr Ziel zu erreichen. So sollten bereits die werdenden Mütter angesprochen werden, um der frühkindlichen Karies und anderen Gefahren für die Mundgesundheit bei Kleinkindern entgegenzuwirken. Bekannt ist dies schon länger, aber die Umsetzung in die tägliche Praxis lässt auf sich warten. Ein wissenschaftlich fundiertes Konzept der zahnärztlichen Gesundheitsfrühförderung, entwickelt an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), wurde nun prämiert – vielleicht ein Anstoß, praxistaugliche Konzepte für frühe Intervention tatsächlich einzuführen.

Auf dem Deutschen Zahnärztetag in Frankfurt am 6. November 2015 ehrte die „Initiative für eine mundgesunde Zukunft in Deutschland“ vier Preisträger, die mit praxisnahen Konzepten und Projekten nachweislich die Prävention Frühkindlicher Karies verbessert haben. Mit dem ersten Preis dieser Gemeinschaftsinitiative von Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und CP GABA wurden Prof. Dr. Hüsamettin Günay und sein Team für die Zahnärztliche Gesundheitsfrühförderung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) ausgezeichnet. Das interdisziplinäre Konzept umfasst die prä- und postnatale Betreuung von Mutter und Kind. Es setzt in der Schwangerschaft an, u. a. mit Aufklärung und Unterstützung bei der Mundgesundheit. Die Stiftung „Pro Kind“ erhielt einen Sonderpreis für die Integration dieses zahnmedizinischen Konzeptes in ihr Hausbesuchsprogramm für werdende Mütter in belasteten Lebenssituationen.

Mütter als Ausgangspunkt für Prävention

In den 1980er-Jahren kam in Deutschland der Gedanke einer Gesundheitsfrühförderung für die Mundgesundheit bei Schwangeren auf. Die MHH erarbeitete ihr jetzt ausgezeichnetes Konzept „Zahnärztliche Gesundheitsfrühförderung“. In dessen Mittelpunkt stehen die Stärkung des Bewusstseins für die eigene Gesundheit einerseits und der Präventionsgedanke andererseits. Dreh- und Angelpunkt des Ansatzes ist die Aufklärung der werdenden Mutter, die ihr Wissen in ihre Familie hineintragen soll. Die ersten Zahnarztbesuche liegen in der Schwangerschaft, um die Mundgesundheit der Schwangeren zu verbessern und durch Beratung auf eine zahngesunde Zukunft von Mutter und Kind hinzuarbeiten: Ziele sind die Vermeidung der Frühkindlichen Karies, die Ernährungslenkung und die allgemeine Stärkung der Gesundheit von Mutter und Kind. Die Kinder werden bereits im Säuglingsalter zahnärztlich betreut und die Beratung wird weiter fortgesetzt bis zum dritten Lebensjahr des Kindes. Findet eine pränatale zahnärztliche Betreuung nicht statt, so kann das Konzept angepasst werden: Die postnatale Betreuung sollte dann intensiver ausfallen und um die Aufklärungshinweise der pränatalen Betreuung ergänzt werden. Ab dem dritten Lebensjahr der Kinder sollten diese in die bestehende Gruppen- und Individualprophylaxe eingebunden werden [5].

Wie sieht das Konzept der Frühprävention konkret aus?

Professor Günay und sein Team empfehlen zwei Untersuchungstermine beim Zahnarzt während der Schwangerschaft, an denen eine präventive Betreuung, Aufklärung und ggf. Behandlung der Frauen stattfinden. Der erste Besuch sollte am Anfang der Schwangerschaft erfolgen, der zweite (S2) am Ende. Nach der Schwangerschaft folgen für Mutter mit Kind drei Termine (UZ1– UZ3 für das Kind und PS1–PS3 für die Mutter). Der erste postnatale Termin sollte schon bei dem ersten Zahndurchbruch stattfinden, also etwa zwischen dem sechsten und neunten Lebensmonat des Kindes. Weitere Untersuchungen sollten bei Durchbruch der Milchmolaren und nach Abschluss der Milchzahndentition erfolgen. Die Maßnahmen während dieser Vorsorgetermine dienen v. a. den folgenden Zwecken (näher nachzulesen unter [2, 5]):

Pränatal

• Reduktion oralpathogener Keime, z. B. durch professionelle Zahnreinigung (PZR),
   antiinfektiöse Therapie mittels Mundspüllösungen (Chlorhexidindigluconat 0,2%
   und fluoridhaltig [Aminfluorid und Zinnfluorid])
• Sanierung der Mundhöhle der werdenden Mutter (Entfernung offener kariöser Läsionen,
   ggf. antiinfektiöse Parodontaltherapie)
• Veränderung des Ernährungsverhaltens
• Optimierung der Mundhygiene
• Aufklärung der Schwangeren über Infektionswege (Karies, Parodontitis)

Postnatal

• Inspektion der kindlichen Mundhöhle
• Beratung der Mutter (z. B. Ernährung, Nuckel- und Saugerwahl, Fluoride, Sprachentwicklung,
   Lutschgewohnheiten, Habits)
• Remotivation und -instruktion der Mutter im Sinne der pränatalen präventiven Betreuung
• ggf. Sanierungsmaßnahmen
• Instruktion und Anleitung der Mutter zu einer kindgerechten Mundhygiene

Vernetzung mit der Stiftung „Pro Kind“

Die zahnärztliche Gesundheitsfrühförderung der MHH ist interdisziplinär ausgerichtet, eine Vernetzung mit anderen Berufsgruppen wie Gynäkologen, Kinderärzten und Hebammen wichtig. Ein Beispiel dafür ist die Kooperation mit dem Hausbesuchsprogramm der Stiftung „Pro Kind“. „Pro Kind Niedersachsen“ startete zunächst als staatlich unterstütztes Modellprojekt im Jahr 2006 in Niedersachsen, später in Bremen und in Sachsen. Es erreicht erstgebärende Schwangere in schwierigen Lebenslagen mit dem Ziel, die Gesundheit, Kompetenz der Eltern und in Folge die Entwicklung ihrer Kinder zu unterstützen. Risiken für Gesundheit und soziale Auffälligkeiten sollen entschärft werden. Im Zuge der Zusammenarbeit mit der MHH seit ca. 7 Jahren verstärkte das Projektteam von „Pro Kind“ die zahnmedizinische Vorsorge im Rahmen des Programms.
Konkret gestaltet sich das Programm folgendermaßen: Familienbegleiterinnen, z. B. Hebammen, Sozialpädagoginnen oder Kinderkrankenschwestern, besuchen die Schwangeren alle zwei Wochen. Sie bringen ausreichend Zeit mit, um eine Beziehung mit ihnen aufzubauen. Die Familienbegleiterinnen stehen der werdenden Mutter und ihrer Familie beratend zur Seite; auch später, während der beiden ersten Lebensjahre ihres Kindes, erhalten die Eltern Anregungen und Ideen für eine gesunde Lebensweise und die Förderung der kindlichen Entwicklung. Diese aufsuchende Betreuung stammt aus den USA und wird dort mit dem „Nurse-Family-Partnership- Programm“ bereits seit den 80er-Jahren erfolgreich umgesetzt. Es zeigte sich, dass durch die frühe Betreuung von sozial gefährdeten Familien langfristig Folgekosten für die Gesellschaft eingespart werden können. „Pro Kind“ ist mittlerweile über die Modellphase hinaus. Jetzt stehen den Familienbegleiterinnen neue Materialien zur Verfügung, die besser an deutsche Familien angepasst sind als die anfangs verwendeten amerikanischen: einerseits Gesprächsleitfäden in leicht verständlicher Sprache für die Familienbegleiterinnen, andererseits pädagogisch sinnvolles Spielzeug für die Kleinkinder, um die Eltern-Kind-Beziehung zu fördern.

Langzeitstudie: positive Wirkung von Frühprävention bis ins Erwachsenenalter

Die Zusammenarbeit mit „Pro Kind“ war für Prof. Günay nur eine Variante, das Konzept der MHH in die Praxis zu bringen. In unterschiedlicher Weise wird das Konzept seit den 1990ern umgesetzt. Zudem wurde es in einer Studie auf seine Wirksamkeit hin bis ins Erwachsenenalter der Probanden untersucht [1, 3, 4, 6]. Die Studie gliederte sich in fünf Abschnitte, in denen jeweils eine Untersuchung der Mundgesundheit der Probanden durchgeführt wurde: Schwangerschaft, Kleinkinder (0-3 Jahre), Kinder (4-6 Jahre), Jugendliche (13-14 Jahre) und junge Erwachsenen (18-19 Jahre). An Phase I nahmen 86 schwangere Frauen aus unterschiedlichen Sozialschichten im Alter zwischen 20 und 37 Jahren teil (Begleitgruppe); an Phase II noch 54 mit ihren Kleinkindern und an Phase III 40 Mütter mit Kindern. Die Mütter und ihre Kinder wurden bis zum dritten Lebensjahr alle sechs Monate und bis zum 12. Lebensjahr einmal im Jahr nach WHO-Kriterien untersucht. Dabei wurden sie auch individualprophylaktisch betreut, einschließlich Aufklärung, Ernährungsberatung und professioneller Zahnreinigung. Zur Bewertung der Mundgesundheit wurden Zahn-, Parodontal-, und Schleimhautbefund, dmf-t- bzw. DMF-T-Index sowie Approximalraum-Plaque-Index (API) und die Konzentration von Streptococcus mutans und Lactobazillen im Speichel herangezogen. Zufällig ausgewählte Kindergartenkinder (Phase II, III) bzw. Schüler (Phase IV, V) in Hannover dienten jeweils als Kontrollgruppe. Die Studienergebnisse deuten auf eine hohe Wirksamkeit der frühen Intervention hin: Die untersuchten Kinder im Alter von drei Jahren zeigten alle ein kariesfreies Gebiss, während nur 81,5 % der Kinder der Kontrollgruppe keine Karies aufwiesen. Bei den sechsjährigen Kindern im dritten Abschnitt der Studie hatten in der Begleitgruppe 75 % der Kinder ein naturgesundes Gebiss, in der Kontrollgruppe nur 50 %. In Phase V waren 92,3 % der 26 noch an der Studie teilnehmenden, untersuchten Probanden und 71,4 % der Kontrollgruppe kariesfrei; 17 Probanden der Begleitgruppe und 8 der Kontrollgruppe wiesen naturgesunde Gebisse auf. Die Ergebnisse müssen vorsichtig interpretiert werden, u. a. da die Drop-out- Rate aufgrund der Studienlänge hoch war, keine Risikogruppen erreicht werden konnten und vor allem ohnehin gesundheitsbewusste Mütter teilgenommen haben. Eine klare Tendenz zeigen die Ergebnisse aber durchaus.

Ausblick

Damit Konzepte wie dieses in die Praxis übernommen werden, müssen die vorgesehenen Untersuchungen von den Kassen bezahlt werden und Strukturen geschaffen werden, in denen Schwangere bzw. Mütter mit ihren Kleinkindern tatsächlich an den Zahnarzt verwiesen werden. Gynäkologen sollten Schwangere an den Zahnarzt überweisen, Kinderärzte im Rahmen der U-Untersuchungen auf bevorstehende zahnärztliche Frühuntersuchungen hinweisen. Besserung ist hier durch das jüngst beschlossene Präventionsgesetz in Sicht. Die Aufnahme in den Leistungskatalog und Ausgestaltung der zahnärztlichen Versorgung von Kleinkindern bis zum 30. Lebensmonat liegt derzeit beim Gemeinsamen Bundesausschuss. Prof. Günay sieht dies als einen Schritt in die richtige Richtung an. Allerdings bemängelt er, dass die neuen Bestimmungen erst beim sechs Monate alten Kind ansetzen und keine gesonderten Termine für Schwangere vorsehen. Auch ein Bonussystem für wahrgenommene Kinderpräventionstermine würde er als sinnvoll erachten.

Näheres zum Autor des Fachbeitrages: Dagmar Kromer-Busch